

Meine Geschichte
Eine ungewöhnliche Reise
Lass dich von meinem Abenteuer fesseln
Erster Teil
Im Wolkenparadies
»Wenn du es wirklich wissen willst, wirst du es erfahren. Das ist Gesetz.« Vater Karl
»Alter Falter! Ganz schön spooky, was in den Prophezeiungen steht. Ich habe in meinem Leben als dicker grüner Raupler schon einiges mitbekommen. Aber das schlägt doch dem Blatt den Stängel aus. Gut, dass ich hier einen Platz gefunden habe, von dem aus ich alles im Auge habe. Bei Masita geht’s grade voll rund.«
Lass das!« Ich kann nichts dafür, ich muss kichern. Tante SoSo stemmt die Hände in die Hüften und brummt wie ein dicker Käfer. Schnell kneife ich die Augen wieder zu und hoffe, dass ich ein Gesicht mache, das nach höchster Konzentration aussieht. Vergeblich: Meine Tante ist Meisterin in Telepathie und weiß deswegen ganz genau, was in meinem Kopf vorgeht. Und natürlich hat sie auch gesehen, wie Amy mich in den Arm gezwickt hat. Eigentlich hätte meine Freundin dafür ein dickes Lob von Tante SoSo verdient, denn schließlich liegen wir drei Meter voneinander entfernt auf dem weichen Gras. Amy hat mich nur in Gedanken gekitzelt. »Masita, konzentriere dich und schicke Flo eine Farbe.« Flo ist die Zweite in unserem Bund. Dann gibt es noch Tilda, und zusammen sind wir die BoomBoom Roses. Eigentlich. Im Augenblick sind wir nämlich keine tolle Band, sondern Schülerinnen, die lernen sollen, wie man Gedanken überträgt. Alle Wolparianer können das. Und brauchen diese Fähigkeit, um mit Vater Karl zu sprechen. Er ist auf den ersten Blick ein knochiger, uralter Baum mit einem so dicken Stamm, dass man minutenlang gehen muss, um ihn einmal zu umrunden. Auf den zweiten Blick – oder eben auf den telepathischen Blick – ist Vater Karl … nun ja, ein Vater. Der Boss im Wolkenparadies. Ohne ihn läuft hier bei uns nichts, und es wäre sehr, sehr blöd, wenn ich nicht weiterhin mit ihm sprechen könnte.
1
Ich atme tief ein. Kneife meine Augen noch ein bisschen fester zusammen, bis ich kleine weiße Punkte flirren sehe. Und stelle mir ein sattes, warmes Rot vor. Das ist nämlich die Farbe, die mein Kleid heute hat. Es war gar nicht so einfach, Blumen zu finden, die exakt zu meinem Outfit passen. Aber hinter Tildas Haus war ein ganzer Busch voll roter Blüten. Ein paar davon habe ich mir unterwegs in die Haare geflochten, sie passen wundervoll zu der weißen Feder in meiner Frisur. Meine Locken kann ich sowieso nicht bändigen. Die machen, was sie wollen, weswegen ich meistens nur einen kleinen Zopf an der Seite trage, damit mir die roten Kringel nicht dauernd ins Gesicht fallen. Die Blumen riechen so süß, dass ich mich kaum konzentrieren kann. »Blau!« Tilda setzt sich auf und strahlt. Innerlich verdrehe ich die Augen. An mir liegt es nicht, ich habe nur an Rot gedacht. Na ja, und ein bisschen an Blau. Neben dem roten Blumenbusch steht eine mannshohe blaue Blüte. Tante SoSo seufzt. Dann klatscht sie in die Hände. »Genug für heute. Ich möchte nur wissen, wo ihr Mädchen mit euren Gedanken seid.« Sie schüttelt den Kopf. »Wenn sie das nicht rausfinden kann, ist sie aber mächtig mies in Telepathie «, flüstert Flo mir zu. »Das habe ich gehört, junge Dame!« Tante SoSo bückt sich. Im ersten Moment befürchte ich, sie ziehe Flo gleich an den Haaren. Dann aber reißt sie einen grünen Zweig ab, schnuppert daran und steckt ihn zufrieden in ihre Schürzentasche, die sich über ihrem gewaltigen Bauch spannt. Ich nehme an, das Kraut braucht sie für irgendeinen widerlich bitteren Tee gegen Husten oder so. »Geht nach Hause. Und vergesst nicht, euch bis morgen eine Person zu suchen, mit der ihr telepathisch Kontakt aufnehmen wollt.« »Hausaufgaben? Heute?« Amy rappelt sich hoch und sieht Tante SoSo aus kullerrunden Augen an. Aber die Masche zieht bei unserer Lehrerin nicht. »Ja. Heute.« Tante SoSo winkt uns zu und snoopt davon.
2
Irgendwann in drei oder vier Lektionen will sie uns beibringen, wie wir uns allein mit der Kraft unserer Gedanken in Sekundenschnelle von einem Ort zum anderen snoopen können. Bis dahin müssen wir noch zu Fuß gehen. Tilda summt einen neuen Song, probiert Melodien aus, flicht hier und da ein Wort in die Musik. Ich mag ihre Stimme, sie ist hell und klar und erinnert mich an eiskaltes Wasser. Und ein bisschen an eine Triangel. Diese holt sie jetzt auch aus der Tasche an ihrem Rock und schlägt im Takt mit dem kleinen Stöckchen auf das gebogene Metall. Passt! Flo hüpft zu ihr, hakt sich bei Tilda unter und unterlegt mit ihrer rauen Stimme Tildas neue Melodie mit Rhythmus. Sie könnte jetzt die hellblau bemalten Kastagnetten hervorholen, die sie am liebsten spielt. Tut sie aber nicht. Amy legt den Kopf schief und schließt die Augen. Einen Moment lang bleibt sie stehen, dann rennt sie zu den anderen. Stimmt warm in die Melodie ein und streut dann und wann ein neues Wort in den Song. Ihr Tamburin hat sie heute nicht dabei, aber das muss auch nicht sein. Was ich höre, ist perfekt. Weil es schön ist. So einfach ist das manchmal. Ich liebe es, den BoomBoom Roses dabei zuzusehen und zuzuhören, wie sie zu meinen neuen Melodien improvisieren, neue Töne hinzufügen, sich im Takt bewegen und tanzen, tanzen, tanzen. Und sie sehen wunderschön aus, alle drei. Amy, so verträumt. Die blonde Tilda, die sich selbst zu dick findet, ist perfekt. Und Flo, die uns alle um einen halben Kopf überragt, beneide ich um ihre schwarzen Haare und die dunkle Haut, deren Farbe mich an warme Milch mit Schokolade erinnert. Meine Freundinnen tanzen, und das geht bei ihnen so leicht, dass ich mich manchmal frage, ob sie die Ideen für die Moves nicht irgendwie von den Bäumen pflücken. Mein Magen knurrt.
3
Zum Glück sind die Quetschbeeren schon reif. Während meine Mädels hinter den dichten Büschen verschwinden, pflücke ich eine Handvoll lila Beeren und stopfe sie mir in den Mund. Der Gesang wird leiser, und ich schiele zum Himmel. Die Sonne steht beinahe im Zenit. Höchste Zeit, nach Hause zu gehen. Oder zu rennen – ich bin ein bisschen spät dran, und snoopen kann ich ja noch nicht. Gerade als ich Gas geben will, stolpere ich über einen azurblauen Stein. »Autsch!« Mein Zeh beginnt zu pochen. Ich lasse mich ins Gras fallen, nehme den Fuß zwischen beide Hände und puste auf die schmerzende Stelle. Und schimpfe mit mir selbst, weil ich mal wieder barfuß bin. Aber ich mag es, wenn ich das kühle Gras unter meinen Füßen spüre. Tante SoSo hätte bestimmt ein Kraut, das den Schmerz augenblicklich verschwinden ließe. So aber bleibt mir nur abzuwarten. Mist. Mutter wartet. Sie ist eigentlich total lieb, aber es gibt ein paar ganz wenige Dinge, die sie nicht leiden kann. Warten gehört eindeutig dazu. »Ich warte schon mein ganzes Leben«, motzt sie immer dann, wenn ich ein bisschen zu spät nach Hause komme. Auf wen oder was – das sagt sie allerdings nie. Hilft nichts. Ich puste weiter. Warten. Fast jede Nacht wartet jemand auf mich. In meinen Träumen. Mein Mund wird staubtrocken, als die Bilder der Nacht vor meinem inneren Auge auftauchen. Ich will aufstehen, aber die Gedanken halten mich wie starke Arme am Boden fest. Und dann sehe ich den Regenbogen. Ich weiß, dass ich jetzt nicht träume – aber ich kenne diesen Regenbogen aus so vielen Nächten, dass er mir tagsüber echt vorkommt. »Vielleicht hilft es ja, wenn ich wach bin«, sage ich mir und lasse zu, dass die Bilder und Geräusche, die Gerüche und Gefühle aus so vielen Nächten zu mir auf die Wiese kommen. Vielleicht sind sie hier leichter zu entschlüsseln als bei Vater Karl? Ich nehme mir fest vor, ihn heute Nachmittag zu besuchen, mich in seine starken Äste zu kuscheln und ihn mal um seine Meinung zu bitten. Immerhin hat er unendlich viele Jahre auf der Baumrinde. Da könnte er wissen, was da nachts bei mir so abgeht. Oder warum.
4
Der Schmerz in meinem Zeh ebbt ab. Ich schließe die Augen. Der Regenbogen ist blasser, als wenn ich tief schlafe. Aber er ist da, und ich sehe mir selbst dabei zu, wie ich auf ihn zugehe. Ihn berühre, eins werde mit seinen bunten Farben. Und ich spüre, wie ein Wirbel mich in das Rot und Blau, das Grün und Lila hineinzieht. Hochhebt. Umdreht. Und dann in eine Richtung katapultiert, von der ich nicht sagen kann, ob sie oben oder unten ist. Zunächst hat mir das Angst gemacht – aber mit der Zeit habe ich gelernt, dass ich jedes Mal sanft lande, wenn der Wirbel nachlässt. Und das, obwohl mein Hintern nicht auf Gras plumpst, sondern jedes Mal auf eine glatte graue Oberfläche. Und jedes Mal taucht ein Junge auf. Immer derselbe. Ich kenne ihn nicht. Zumindest habe ich ihn hier im Wolkenparadies noch nie gesehen. Er wäre mir bestimmt aufgefallen. Nicht weil er jedes Mal einen Topf in der einen und einen Löffel in der anderen Hand hält. Es sind seine Augen, die mich faszinieren. Und die so ganz anders leuchten als die von den Wolparianerjungs. Als ich schließlich mit dem Zeh wackele, verzieht sich der restliche Schmerz wie eine Rauchwolke. Was gut ist, denn so langsam muss ich nach Hause. Nicht, dass ich das nicht wollte, aber mein Zuhause ist irgendwie … grau. Wenn es eine Farbe wäre. Was ganz und gar nicht an unserem Haus liegt, das ist hell und freundlich, blitzeblank. Es liegt eher an meiner Mutter Annita. Sie ist grau. Und damit meine ich nicht ihre Haare oder ihre Kleidung. Das Grau kommt aus ihrem Inneren. Es ist ein schweres, trauriges Grau, ohne Musik, ohne Melodie, und fast meine ich, es greifen zu können, als ich in die Stube trete. Und ich spüre den Klang, der von meiner Mutter ausgeht. Es ist keine fröhliche Musik. Früher strahlte sie, wenn sie mich sah. Füllte den Raum mit glasklarem Gesang, der mich an perlende Kiesel und rieselnden Sand erinnerte, in dem sich lustige Vögel und freche Schmetterlinge tummelten.
5
Jetzt ist Mutters Klang dumpf. Dunkel. Wie ein Erdloch, in das keine Sonne fällt. Mama steht am hinteren Fenster und schaut hinaus. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie mitbekommen hat, dass ich wieder da bin. Aber als sie sich schließlich umdreht und blinzelt, weiß ich, dass sie wieder etwas da draußen gesucht hat, das nur sie sehen kann. Obwohl sie etwas versucht, das wie ein Lächeln aussieht, sehe ich, dass ihre Augen feucht glänzen. Höchste Zeit, um sie aufzumuntern. »Mama, Tilda ist so witzig. Sie hat keine Ahnung vom Snoopen und vorhin …« Ich verstumme. Genauso gut könnte ich mit einem Busch reden. Meine Mutter sieht mich an, schaut durch mich hindurch, und ich weiß, dass sie mir nicht zuhört. Ihre Gedanken sind weit, weit weg. Und ganz bestimmt nicht in diesem Zimmer. Sie hat immerhin ein bisschen aufgeräumt und die große rote Decke, unter der sie das Klavier versteckt, damit niemand es sieht, weil niemand es mehr spielt, gegen eine blaue ausgetauscht. »Komm«, sage ich, nehme sie an der Hand und ziehe sie zum Sofa. Dann kuschele ich mich an sie. Sie streichelt mir über die Haare, über die flaumige Feder, die ich hineingeflochten habe, und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. Eine ganze Weile sitzen wir nur so da. Irgendwann nimmt sie das Amulett, das ich immer um meinen Hals trage, in die Hand und streicht sanft über das kühle Gold und die eingravierte Schrift. »Yucce va«: Hallo, du. Sie lässt den Verschluss aufspringen und seufzt, als sie die Taube mit den weit ausgebreiteten Flügeln im Inneren erblickt. Wenn sie jetzt wieder sagt, dass ich noch zu klein für diese Geschichten sei, fange ich an zu schreien. Aber heute sagt sie es nicht. »Mein kleines Blümchen«, flüstert Mama und haucht mir einen Kuss auf die Stirn.
6
Ich schlucke den dicken Kloß in meinem Hals weg. Genau das hat Vater immer zu mir gesagt. Jeden Tag. Bis er fortging. Und mir das Amulett um den Hals legte. Er trägt das gleiche Schmuckstück, das weiß ich. »Warum ist er weg?«, flüstere ich. Mama weiß genau, wen ich meine. Sie schnieft und rückt ein bisschen von mir ab. Dann schließt sie das Amulett und starrt die Wand an. Starrt an Vaters Klavier vorbei, als wäre es nicht da. Weil er nicht mehr da ist. Das macht sie immer so, wenn ich nach meinem Vater frage. Und es nervt. Heute ganz besonders. »Weißt du was?«, blaffe ich sie an und stehe auf. »Ich gehe zu Vater Karl. Der versteht mich. Und der weiß vielleicht auch, was es mit meinem komischen Traum auf sich hat. Und ob es diese andere Welt gibt.« Ich schlüpfe in meine weichen braunen Stiefel. Das Leder ist so fein, dass es sich fast so anfühlt, als würde ich barfuß gehen. Ich ziehe am Schaft, bis alles richtig sitzt. Dann stürme ich los. »Warte!« Mama zuckt zusammen, als wäre sie eben mitten aus dem Schlaf gerissen worden. Ich fahre herum. Sie sieht mich mit großen Augen an. »Hör auf damit«, sagt sie leise. Dann räuspert sie sich. »Masita, das ist Blödsinn. Seifenblasen sind das.« Beim Sprechen ist sie immer lauter geworden. Bis sie mich beinahe anbrüllt. »Ich will nichts mehr davon hören!« Ich klappe den Mund auf und weiß nicht, ob ich sauer sein soll oder mich freuen, weil sie endlich, endlich überhaupt irgendetwas sagt. Auch meine Mutter sieht ratlos aus. Ganz so, als wäre sie über sich selbst erschrocken. »Es muss doch nicht alles stimmen, was Vater Karl sagt«, meint sie. »Er ist schon ein alter Baum.« Da muss ich ihr recht geben.
7
Vater Karl ist so alt, wie man nur denken kann. Er steht in der Mitte des Wolkenlandes, und es braucht zwei Dutzend Männer, die sich an den Händen nehmen, um seinen mächtigen Stamm einmal zu umfassen. Sein Blätterdach ist sehr groß und dicht, und wenn man sich in seine starken Äste kuschelt, kann man das Leben durch sein Holz vibrieren fühlen. Natürlich kann er nicht sprechen, aber wir alle im Wolkenland verstehen ihn trotzdem. »Und wo kämen wir hin, wenn jeder seinen Träumen folgte?« Mutters Stimme kippt. Sie schluchzt. Ich weiß, dass jetzt der Moment ist, den ich nutzen muss. Jetzt oder nie – sonst werde ich noch Jahre auf Antworten warten müssen. Ich setze mich wieder neben sie und nehme sie in den Arm. Eigentlich sollte es umgekehrt sein, aber was ist bei uns beiden schon normal? Ich atme tief ein. Summe in meinem Kopf ein Lied, das erst ganz wirr vor lauter Klängen ist, die nicht zusammenpassen wollen. Und das sich dann doch zu einem Klang fügt, der härter ist als Vater Karls Rinde. Das macht mir Mut, und ich platze einfach heraus: »Warum bist du so oft traurig, Mama? Es ist doch so schön bei uns im Wolkenparadies, und alle fühlen sich wohl hier, und die Blumen sind so schön, und wir beide haben doch uns, und Tante SoSo ist doch eine tolle Schwester …« Herrje. Ich plappere wie ein Wasserfall und muss mir auf die Zunge beißen. Sie kräuselt die Lippen und sieht für einen ganz kurzen Moment belustigt aus. Dann wischt sie sich die Tränen aus den Augen. »Ach, kleines Blümchen.« Sie holt tief Luft, und ich befürchte, dass sie wieder in eisernes Schweigen verfällt. Aber dann redet sie tatsächlich weiter. Ich wage es nicht, sie anzusehen, und starre aus dem Fenster. Dort steht ein Busch mit knallroten Blumen. In einer der kelchförmigen Blüten flattert ein Schmetterling. »Es ist nicht alles so schön und einfach, wie es aussieht. Auch hier gibt es dunkle Geheimnisse.« Geheimnisse? Sind eigentlich immer gut. Auch wenn es dunkle sind. »Dann verrate sie mir doch«, fordere ich Mutter auf. Und könnte kreischen, als sie sagt: »Masita, dafür bist du noch zu klein.«
8
Immer bin ich zu klein. Zu jung. Zu unerfahren. Aber erstens wachse ich jeden Tag. Werde jeden Tag älter. Und sammele jeden Tag neue Erfahrungen. Und zweitens: Wie soll man etwas lernen, wenn die Erwachsenen einem nie was verraten? Ich möchte wissen, wie die Großen zu all ihrem Wissen gekommen sind! An Büschen wächst das sicher nicht. »Ich bin nicht zu klein!« Das klang jetzt nicht freundlich. Aber das ist mir im Augenblick auch egal. Trotzdem beeile ich mich, netter zu klingen, als ich Mamas irritierten Blick sehe. Nicht dass sie wieder nichts erzählt! »Mein Herz ist groß, Mama, und versteht sehr viel. «Sie lächelt! Tatsächlich und ehrlich! Und dann streichelt sie mir über die Wange. »Du bist Elias so ähnlich.« Elias ist mein Vater. Der Mensch, den ich am meisten vermisse und doch am wenigsten von allen kenne, weil er gegangen ist, als ich wirklich noch klein war. Das ist so lange her, dass ich mich kaum an ihn erinnere. Aber irgendwo tief in mir drin klingt eine Melodie, seine Melodie. Die das alte, versteckte Klavier so gut kennt. Sanft, fröhlich, stark und ganz, ganz warm. Früher konnte ich das noch besser hören, aber jetzt habe ich Angst, dass die Töne immer leiser werden und eines Tages ganz verstummen. Und deshalb muss ich ganz einfach alles wissen. Das kann ich meiner Mutter so natürlich nicht sagen. Muss ich jetzt auch nicht, denn sie spricht auch so weiter. »Dein Vater war fröhlich und mutig. Und er liebte Abenteuer.« Sie kichert. »Und dann hatte er ständig neue Ideen. Langweilig war es nicht mit ihm. Und wenn doch, dann hat er für dich einfach ein neues Spiel erfunden oder sich eine Geschichte ausgedacht.« Daran erinnere ich mich! Wenn Vater vor dem Haus saß und fabuliert hat, waren wir nie allein. Meistens kamen Tilda und die anderen Roses, und wir ließen uns gemeinsam in fremde Welten entführen. »Aber seine Träume haben zu nichts Gutem geführt. Elias ist gegangen, weil er seinem Traum gefolgt ist.« Es scheint, als würde sich eine dunkle Wolke über Mutters Gesicht schieben. Mit einem Mal befällt mich ein ungutes Gefühl. Als würde jemand die Hände um meinen Hals legen und zudrücken. »Warum sprichst du immer in der Vergangenheit von Papa? Weil er tot ist?« Das Letzte sage ich ganz leise. Damit es nicht wahr ist. »Das weiß ich nicht, Masita. Ganz ehrlich, ich wünschte, ich wüsste es.« Und dann schweigt sie. Ich auch. Ich umfasse das Amulett mit der Hand. Aber auch die Taube gibt mir keine Antwort.
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